Nicht jeder Mensch mit ADHS entwickelt eine Sucht.
Und nicht jeder, der süchtig ist, hat ADHS.

Aber: Menschen mit ADHS tragen eine besondere Verletzlichkeit in sich, wenn es um Suchterkrankungen geht.
Nicht aus Schuld oder Schwäche, sondern durch biologische, emotionale und soziale Mechanismen, die das Risiko erhöhen.

Genau diese Zusammenhänge möchten wir hier erklären.

◊ Neurobiologie: Dopamin, Belohnung und der Drang nach Reiz

Dopamin ist ein zentraler Neurotransmitter im Gehirn. Er ist mitverantwortlich für Motivation, Belohnung, Konzentration und Impulskontrolle.

Bei vielen Menschen mit ADHS funktioniert das Dopaminsystem anders:

  • Es wird weniger Dopamin produziert,
  • die Rezeptoren reagieren weniger empfindlich,
  • und die Signalübertragung ist weniger effizient.

Das führt dazu, dass alltägliche Reize oft nicht ausreichend Belohnungsgefühl erzeugen.
Das Gehirn „fragt nach mehr“ – nach stärkeren Reizen oder schnelleren Belohnungen.

Wenn das Gehirn zu wenig Belohnungsempfinden erzeugt, sucht es nach Reizen, die einen schnellen Dopamin-Kick liefern: Glücksspiel, Substanzen oder exzessive Verhaltensweisen.
Und das ist alles andere als ein Versagen. Es ist schlicht ein biologisch erklärbarer Mechanismus.

◊ Emotionale und soziale Mechanismen

Biologie erklärt viel. Aber nicht alles.
Auch Gefühle, Beziehungen und Umfeld spielen eine entscheidende Rolle.

  • Emotionale Überforderung:
    ADHS-Betroffene erleben Sinneseindrücke, Reizüberflutung oder Stimmungsschwankungen oft besonders intensiv. Das führt zu innerer Anspannung, die schwer auszuhalten ist.
  • Ablehnung und Missverständnis:
    Verhalten wird häufig fehlinterpretiert – als Faulheit oder Desinteresse. Das erzeugt Scham, Wut und Rückzug.
  • Fehlende Diagnose und mangelndes Verständnis:
    Wer jahrelang nicht weiß, was los ist, versteht sich selbst oft nicht und steht unter enormem Druck.
  • Soziale Isolation und Stress:
    Wenn Beziehungen leiden oder Alltagsanforderungen überfordern, steigt Stress – und Stress ist ein bekannter Risikofaktor für Sucht.
  • Fehlende Belohnungserlebnisse:
    Wenn Bestätigung und Erfolg ausbleiben, wächst der Drang nach Reizen, die diese Lücke sofort füllen.

Das Ergebnis ist ein Suchtrisiko-Gefüge, das biologische Verwundbarkeit mit emotionalen und sozialen Belastungen verbindet.

◊ Zahlen, die ins Nachdenken bringen

Die Verbindung zwischen ADHS und Sucht ist gut dokumentiert:

  • Laut dem National Institute on Drug Abuse haben Menschen mit ADHS ein etwa vierfach erhöhtes Risiko, eine Suchterkrankung zu entwickeln.
  • In einer Untersuchung der University of Minnesota (Wilens et al., 2004) zeigten 21–25 % der Menschen mit Substanzgebrauchsstörungen auch ADHS-Symptome.
  • Eine kanadische Studie (Breyer et al., 2009) fand bei rund 20 % der pathologischen Glücksspieler ADHS-Symptome.
  • Auch eine Übersichtsarbeit von Yates et al. (2015) zeigt:
    In Gruppen mit problematischem Glücksspiel ist der Anteil an Menschen mit ADHS deutlich höher als in der Allgemeinbevölkerung.

Diese Zahlen machen deutlich:
Die Verbindung zwischen ADHS und Sucht ist kein Zufall, sondern ein wiederkehrendes Muster in der Forschung.

◊ Wege in die Sucht – typische Muster bei ADHS

Warum geraten viele ADHS-Betroffene in eine Sucht?
Einige häufige Mechanismen:

  • Impulsivität:
    Entscheidungen werden spontan getroffen, oft ohne die Konsequenzen vorher durchdenken zu können.
  • Belohnungsbedarf und Reizsuche:
    Wenn der Alltag wenig Belohnung bietet, locken Reize, die sofort wirken – ein Gewinn, ein Kick, eine schnelle Ablenkung.
  • Selbstmedikation:
    Glücksspiel, Alkohol, Nikotin oder andere Substanzen dämpfen kurzfristig Unruhe und emotionale Spannung.
  • Emotionale Belastung:
    Konflikte, Überforderung und Druck werden bei ADHS oft intensiver erlebt und Sucht wird zur vermeintlichen Lösung.
  • Späte oder fehlende Diagnose: Wer seine ADHS nicht kennt, hat keinen Zugang zu gezielter Unterstützung.

◊ Glücksspiel im Fokus

Glücksspiel ist für viele ADHS-Betroffene besonders riskant:

  • Es bietet sofortige Rückkopplung:
    Einsatz → Reaktion → Ergebnis.
  • Es spricht das Dopaminsystem direkt an.
  • Schon kleine Impulse können reichen, um die Kontrolle zu verlieren –
    nicht aus Willensschwäche, sondern, weil das Belohnungssystem besonders sensibel reagiert.

◊ Polysucht – wenn eine Sucht nicht alleine bleibt

Viele ADHS-Betroffene entwickeln mehrere Süchte gleichzeitig oder nacheinander:

  • Glücksspiel
  • Nikotin oder Alkohol
  • exzessives Onlineverhalten
  • Sport- oder Arbeitssucht
  • Kaufsucht

Das bedeutet nicht, dass dies bei allen geschieht – aber das Risiko ist erhöht. Das Gehirn sucht ständig neue Wege, sein Belohnungssystem zu aktivieren. Wenn eine Sucht zurückgedrängt wird, kann eine andere an ihre Stelle treten.

◊ Prävention und Hilfe – was wirklich helfen kann

  • Frühe Diagnose und passende Behandlung können helfen, das Risiko zu senken.
  • Auch eine späte Diagnose kann ein Wendepunkt sein. Es ist nie zu spät, etwas zu verändern.
  • Struktur, Coaching, Therapie und Selbsthilfegruppen geben Halt. Sie helfen, Auslöser zu erkennen und neue Wege zu finden.
  • Entscheidend ist, dass ADHS und Sucht gemeinsam betrachtet und behandelt werden – nicht getrennt.

Wer seine eigene Dynamik versteht, kann lernen, bewusst gegenzusteuern.

Was heißt das zusammengefasst?

Viele Menschen mit ADHS leben völlig ohne Süchte. Trotzdem ist ADHS ein entscheidender Risikofaktor für die Entstehung von Süchten und Suchterkrankungen – ein Faktor, den wir verstehen, ernst nehmen und gezielt angehen müssen. Wer diese zusätzliche Verletzlichkeit kennt, kann sich schützen. Und wer betroffen ist, kann wirksam unterstützt werden.

Je besser wir verstehen, warum das Risiko erhöht ist, desto besser können wir helfen.